Wie alles anfing
Spätfrühling 1991. Ein Engagement bei einer freien Theatergruppe verpflichtet mich nach München. Für einige Wochen brauche ich dort eine Unterkunft. Die Mitwohnzentrale vermittelt mir ein Zimmer in einer WG im Glockenbach-Viertel. Ein Zimmer, das sonst bewohnt war von einer mir gänzlich unbekannten Studentin, die zu der Zeit ein Semester im Ausland verbrachte.
An die Wohnung selbst habe ich kaum noch eine Erinnerung parat, auch das Zimmer ist mir nicht mehr präsent. Aber deutlich vor mir sehe ich die Spüle, die sich vor einer mit Holzpaneelen verkleideten Wand befand. Neben der Spüle ein kleines Holzgestell zum Abtropfen und Trocknen der paar Teller, Tassen und Gläser, die vorhanden waren. Über der Spüle ein Bord für nötige Utensilien wie Lappen, Bürste, Spülmittel. Und ein gläserner Bierseidel, eine „Mass“. Darin zusammengeknäuelt Deckel von Joghurtbechern.
Es war die Zeit, als Ökologie ein deutliches Thema darstellte. Umwelt, Recycling, Energiesparmaßnahmen … die öffentliche Debatte war davon bestimmt. Mülltrennung war längst eingeführt; ob es damals schon Wertstoffsammlung genannt wurde, weiß ich nicht mehr. Aber jedenfalls wurden Glas und Papier selbstverständlich getrennt entsorgt.
Und nun war schon einige Zeit mehr und mehr herausgestellt worden, dass Aluminium in der Herstellung extrem energieaufwändig sei. Weshalb es sinnvoll wäre, Alu getrennt zu sammeln und zu recyclen. Dies musste auch die mir das Zimmer vermietende Studentin gewusst haben. Und sie hatte – ob absichtlich mit Aufforderungscharakter oder aus Vergesslichkeit – mir dies halbgefüllte Glas hinterlassen. In dem es farbenprächtig zuging!
Du meine Güte, in was für einer Gesellschaft leben wir, die so viele verschiedene Joghurte, Quarke, Milchdrinks zur Auswahl bereit hält! Und wie viele Design-Abteilungen wird es geben, die alle diese Waren gestalten, immer wieder neu, in immer wieder anderen Variaten. Auf Alu! Aber wer weiß, wie lange noch? Würde – in Anbetracht der augenblicklichen Diskussionen – das Alu nicht vielleicht über kurz oder lang durch Plastik ersetzt werden? Sinnvoll wäre es doch, oder? Und schon eine Generation später wüssten Kinder nicht mehr, was ein Aludeckel war. Was nun gewiss ihr Leben nicht weniger lebenswert machen würde. Aber ein Stück Alltagskultur einer gewissen Epoche wäre halt einfach verloren.
Ich hatte jemanden im entfernteren Bekanntenkreis, der angesichts des Waldsterbens der festen Überzeugung war, Holzbleistifte würden bald nicht mehr hergestellt, und darum angefangen hatte, ebensolche zu sammeln und zu bewahren. Und was musste man über die immer schlechtere Versorgung der Winzer mit guten echten Weinkorken lesen. Garantiert gab es schon Hunderte von Sammlern, die solche aufhoben, um sich und andere in künftigen Plastik-Kork- oder Schraubverschluss-Zeiten daran zu erinnern.
Warum also nicht diese Aludeckel bewahren?
Und da setzte, 20 Jahre nachdem ich mich, weil ich es für so spießig hielt, vom Briefmarkensammeln losgesagt hatte, ein ähnlicher Schamreflex ein: Was willst du denn eigentlich noch alles horten und sammeln??? Hast schon Schlüssel, kleine Kamele, Mon-Chéri-Papier und Schoko-Verpackungen! Lass gut sein!
Und so hob ich während der Münchner Wochen meine verbrauchten Aludeckel wohlgespült auf und gab sie zu den anderen in den Mass-Krug, ließ alles aber dort auf dem Holzbord stehen. Und ob die Zimmerbewohnerin nach ihrem Auslandssemester dann vielleicht erfreut war, weil ihr Untermieter so ordentlich ökologisch gehandelt hatte wie sie selbst, oder ob sie geflucht hat, weil er den Krug nicht ausgeleert hatte, ob sie das alles dann in die Gelbe Tonne oder den Grünen Sack oder wie es in München halt heißt, geschüttet oder zu einer speziellen Sammlerstelle gebracht hat – oder ob sie gar eine Sammlung von Aluminiumdeckeln begonnen, vielleicht gar forgesetzt und erweitert hat – ich weiß es nicht.
Eines weiß ich aber ganz genau: Das Bild mit den bunten Aludeckeln im Glas verließ mich nicht. Und so nach und nach fragte ich mich, wofür ich mich eigentlich schämen sollte? Wer soll denn was dabei finden? Wer sollte mir denn verbieten, Aludeckel zu sammeln? Und warum?
Und ich legte die klassische Serie (Erdbeer / Pfirsisch-Maracuja / Heidelbeer / Kirsche) einer gerade gegessenen Joghurt-Marke auf einen schwarzen Karton...
Die Folgen dieses „coming outs“ werden hier zum ersten Mal öffentlich gemacht.